BMF-Schreiben – und ihre Auslegung
Eine Hinzuschätzung wegen Verstoßes gegen Aufzeichnungspflichten kommt nicht in Betracht, soweit der Steuerpflichtige darauf vertrauen durfte, dass er von einer ihm durch das Bundesministerium der Finanzen eingeräumten Aufzeichnungserleichterung Gebrauch gemacht hat.
Für die Auslegung von an bestimmte Gruppen von Steuerpflichtigen adressierte Regelungen des BMF über Aufzeichnungserleichterungen ist der objektive Erklärungsinhalt der Regelung, wie ihn der objektivierte Betroffene nach den ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte, maßgebend; im Zweifel ist das die Betroffenen weniger belastende Auslegungsergebnis vorzuziehen.
Gemäß § 148 Satz 1 AO können die Finanzbehörden für einzelne Fälle oder für bestimmte Gruppen von Fällen Erleichterungen bewilligen, wenn die Einhaltung der durch die Steuergesetze begründeten Buchführungs, Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflichten Härten mit sich bringt und die Besteuerung durch die Erleichterung nicht beeinträchtigt wird. Die Bewilligung von Erleichterungen nach § 148 AO bezieht sich nicht nur auf die in der Abgabenordnung geregelten Pflichten, sondern auf alle durch Steuergesetze geregelten Buchführungs, Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflichten1. Das Vorliegen einer solchen von den Finanzbehörden bewilligten Erleichterung erscheint im Hinblick auf die Zuständigkeit des BMF und die vom BMF gewählte Handlungsform problematisch.
Die BMF-Regelung ist unter Berücksichtigung der Aufgabenverteilung zwischen dem Bundesminister der Finanzen (BMF) und den Landesfinanzbehörden als allgemeine fachliche Weisung zu qualifizieren.
Erleichterungen gemäß § 148 Satz 1 AO können durch die Finanzbehörden (§ 6 Abs. 2 AO) durch Einzelverwaltungsakt oder für bestimmte Gruppen von Fällen durch Allgemeinverfügung (§ 118 Satz 2 AO) gewährt werden2. Eine Vorschrift, wonach das BMF für den Erlass einer Allgemeinverfügung sachlich zuständig ist, mit der Erleichterungen nach § 148 Satz 1 AO bewilligt werden, fehlt jedoch in § 148 Satz 1 AO (s. etwa § 367 Abs. 2b Satz 2 und 3 AO für die der Verwaltungshoheit des Bundes unterfallenden Steuern). Auch der Umstand, dass die Einkommensteuer und die Umsatzsteuer als Gemeinschaftsteuern (Art. 106 Abs. 3 Satz 1 GG) in den Bereich der Bundesauftragsverwaltung fallen, begründet keine Wahrnehmungskompetenz des Bundes3.
Als im Rahmen der finanzverfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung problematisch würde sich auch die Einordnung der BMF-Regelung als allgemeine Verwaltungsvorschrift erweisen. Denn Art. 108 Abs. 7 GG weist die Zuständigkeit für den Erlass allgemeiner Verwaltungsvorschriften nicht dem BMF, sondern der Bundesregierung zu, wobei deren Regelungskompetenz an die Zustimmung des Bundesrates gebunden wird.
Allerdings verweist Art. 108 Abs. 3 Satz 2 GG für den Bereich der Bundesauftragsverwaltung auf die Geltung des Art. 85 Abs. 3 und 4 GG und erklärt anstelle der Bundesregierung den Bundesminister der Finanzen für zuständig. Danach unterstehen die Landesfinanzbehörden den Weisungen des BMF (Art. 85 Abs. 3 Satz 1 GG), wobei sich die Bundesaufsicht auf die Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Ausführung erstreckt (Art. 85 Abs. 4 Satz 1 GG). Ob das Weisungsrecht des Bundes insoweit nicht nur Einzelweisungen, sondern auch allgemeine fachliche Weisungen abdeckt, ist zwar umstritten4; dies ablehnend dagegen Seer in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hg.), BK, Art. 108 Rz 111 ff., 120 ff., m.w.N.)). Da jedoch § 21a Abs. 1 Satz 1 des Finanzverwaltungsgesetzes dem BMF zur Verbesserung und Erleichterung des Vollzugs von Steuergesetzen und im Interesse des Zieles der Gleichmäßigkeit der Besteuerung ausdrücklich die Kompetenz zuweist, mit Zustimmung der obersten Finanzbehörden der Länder einheitliche Verwaltungsgrundsätze und Regelungen zur Zusammenarbeit des Bundes mit den Ländern zu bestimmen sowie allgemeine fachliche Weisungen zu erteilen, ist davon auszugehen, dass sich das BMF beim Erlass der hier zu beurteilenden BMF-Regelung dieser Handlungsform bedienen wollte.
Trotz der gewählten Handlungsform der allgemeinen fachlichen Weisung entfaltet die BMF-Regelung eine Vertrauensschutzwirkung gegenüber den in ihr bezeichneten Gruppen von Steuerpflichtigen.
Allgemeine fachliche Weisungen richten sich zwar zunächst an den Weisungsempfänger, im Streitfall die zuständigen Landesfinanzbehörden (vgl. Art. 85 Abs. 3 Satz 2 GG). Zu berücksichtigen ist bei der BMF-Regelung allerdings, dass sie den Finanzämtern -entgegen der Annahme des Finanzgerichts Münster- nicht lediglich Schätzungshilfen für den Fall an die Hand gibt, dass das Finanzamt nach Ablauf des Besteuerungszeitraums eine Nichterfüllung oder nicht ordnungsgemäße Erfüllung der Aufzeichnungspflichten durch den Steuerpflichtigen feststellt. Vielmehr eröffnet sie dem Steuerpflichtigen in der zweiten Vorbemerkung für den laufenden Besteuerungszeitraum eine pauschale Verbuchungsmöglichkeit und spricht insoweit eine Entbindung von der Verpflichtung zur Aufzeichnung einer Vielzahl von Einzelentnahmen aus. Dies wird vor allem daran deutlich, dass die Regelung in der zweiten Vorbemerkung die laufende monatliche Verbuchung der Warenentnahmen erlaubt. Insoweit sieht das BMF inhaltlich für bestimmte Gruppen von Steuerpflichtigen Erleichterungen für die Einhaltung der durch die Steuergesetze begründeten Aufzeichnungspflichten vor, wie dies auch § 148 AO ermöglicht. Die Anknüpfung an das Regelungskonzept des § 148 AO wird dadurch bestätigt, dass das BMF ab der für das Jahr 2018 maßgeblichen Fassung -bei ansonsten unverändertem Wortlaut- selbst auf § 148 Satz 1 AO Bezug nimmt5. Da die näher bezeichneten Gruppen von Steuerpflichtigen durch die nicht nur verwaltungsintern, sondern im BStBl I und auf der Internetseite des BMF veröffentlichte BMF-Regelung unmittelbar adressiert werden, legt das BMF der allgemeinen fachlichen Weisung eine konkret generelle Wirkung bei und nähert sie damit der Allgemeinverfügung an. Denn die erfassten Gruppen von Steuerpflichtigen müssen sich schon bei der laufenden Erfüllung ihrer Aufzeichnungspflichten entscheiden, ob sie eine Einzelaufzeichnung der Warenentnahmen durchführen oder von der aus der BMF-Regelung ersichtlichen Erleichterung in Form der monatlichen pauschalen Aufzeichnung Gebrauch machen. Bei dieser Entscheidung müssen sie auf die Gewährung der Erleichterung vertrauen können. Anderenfalls würde die BMF-Regelung ihre Vereinfachungswirkung verfehlen, da der Steuerpflichtige immer vorsichtshalber ordnungsgemäße Einzelaufzeichnungen führen müsste.
Bei der Auslegung der im Streitfall zu beurteilenden allgemeinen fachlichen Weisung in Gestalt der jeweiligen BMF-Regelung ist ein objektivierter Maßstab zugrunde zu legen.
Da den im vorliegenden Zusammenhang zu beurteilenden allgemeinen fachlichen Weisungen für die betreffenden Gruppen von Steuerpflichtigen die Bedeutung einer Vertrauensschutz begründenden Dispositionsgrundlage zukommt, ist primär eine objektivierende Auslegung geboten6 und nicht nur auf das Verständnis der Verwaltung, des BMF oder eines einzelnen Finanzamts abzustellen. Dabei kommt es nicht darauf an, wie der konkrete Empfänger die Regelung tatsächlich verstanden hat, was die Finanzbehörde erklären wollte oder wie ein außenstehender Dritter die Erleichterung auffassen konnte. Für die Auslegung von Erleichterungen ist der objektive Erklärungsinhalt der Regelung, wie ihn der objektivierte Betroffene nach den ihm bekannten Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte, maßgebend. Dabei ist nicht allein auf den Tenor abzustellen, sondern auch auf den materiellen Regelungsgehalt einschließlich der Begründung7. Darüber hinaus sind die beigefügten Erklärungen und die dem oder den Betroffenen bekannten Umstände -wie zum Beispiel frühere Bescheide oder die Verwaltungspraxis- zu berücksichtigen8. Im Zweifel ist das die Betroffenen weniger belastende Auslegungsergebnis vorzuziehen, da die von einer Erleichterung Begünstigten durch etwaige Unklarheiten aus der Sphäre der Verwaltung nicht benachteiligt werden dürfen9. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen die Inanspruchnahme der Erleichterung insofern faktisch irreversibel ist, als die unterlassenen Aufzeichnungen nicht nachgeholt werden können.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 16. September 2024 – III R 28/22
- Baum/Grammes in AO – eKommentar, § 148 AO, Rz 3 [↩]
- vgl. z.B. Baum/Grammes in AO – eKommentar, § 148 AO, Rz 5; Drüen in Tipke/Kruse, § 148 AO Rz 15 ff., 23; Klein/Rätke, AO, 17. Aufl., § 148 Rz 8; Koenig/Haselmann, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 148 Rz 7; Mues in Gosch, AO § 148 Rz 11; Trzaskalik in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 148 AO Rz 8 [↩]
- Seer in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hg.), BK, Art. 108 Rz 105, m.w.N. [↩]
- dies wohl bejahend zur in Art. 108 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 GG a.F. geregelten Bundesauftragsverwaltung Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 21.10.1971 – 2 BvL 6/69 u.a., BVerfGE 32, 145, BStBl II 1972, 48, unter B.III. 2.b [↩]
- BMF, Schreiben vom 13.12.2017, BStBl I 2017, 1618, zweite Vorbemerkung [↩]
- vgl. Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl., Kap. 5 Rz 31 [↩]
- zur Parallelproblematik bei Verwaltungsakten vgl. z.B. BFH, Urteile vom 11.07.2006 – VIII R 10/05, BFHE 214, 18, BStBl II 2007, 96, unter II. 3.b; und vom 26.11.2009 – III R 87/07, BFHE 227, 466, BStBl II 2010, 429, unter II. 2., jeweils m.w.N. [↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 16.01.2020 – V R 56/17, BFHE 268, 107, Rz 17, m.w.N. [↩]
- für einen Einzelverwaltungsakt vgl. z.B. BFH, Urteil vom 27.10.2015 – VIII R 59/13, BFH/NV 2016, 726, Rz 25, m.w.N.; für eine Allgemeinverfügung z.B. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 28.11.2019 – 5 A 4.18, BVerwGE 167, 163, Rz 21 ff. [↩]